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Dr. Tanja Kasten

Tanja.Kasten@frient.de
Ressortgemeinsame politische Strategie zur Unterstützung von SSR-Prozessen

In den Leitlinien „Krisen verhindern, Konflikte bewältigen, Frieden fördern“
(2017) verpflichtet sich die Bundesregierung, die ressortgemeinsame politische
Strategie zur Unterstützung von SSR-Prozessen in Partnerländern weiterzuentwickeln und knüpft damit auch an das Weißbuch 2016 zur Sicherheitspolitik und zur Zukunft der Bundeswehr an. Diese Strategie löst das bisherige „Interministerielle Rahmenkonzept zur Unterstützung von Reformen des Sicherheitssektors in Entwicklungs- und Transformationsländern“ aus dem Jahr 2006 ab.

Support Security Sector Reform

Sicherheitssektorreformen in Nigeria

Fachgespräch zum Deutschen Engagement am 16.10.2019
30 October 2019
Nigeria_Protest | Tobi-Oshinnaike-MtNEziYlm2 | Unsplash

Die nigerianische Regierung ist für die
Bundesregierung ein entscheidender sicherheitspolitischer Partner in Westafrika.
Das Auswärtige Amt (AA), das Bundesministerium der Verteidigung (BMVg) und das
Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ)
unterstützen die sicherheitspolitischen Akteure des Landes, um
Reformen zu fördern und aktuellen Herausforderungen zu begegnen. Im
Fachgespräch formulierten lokale Akteure Empfehlungen an die
deutsche Politik.







In Nigeria, dem bevölkerungsreichsten Land des afrikanischen Kontinents, sind viele der rund 190 Millionen Menschen durch gewaltsame Konflikte in ihrer persönlichen Sicherheit bedroht. Zu den gewalttätigsten Auseinandersetzungen gehören der Aufstand und die Bekämpfung der islamistisch motivierten Bewegung Boko Haram im Norden des Landes, die Auseinandersetzungen zwischen Viehhirten und sesshaften Bauern im Zentrum, sowie eine klima- und armutsbedingte Verschärfung von Verteilungskonflikten am Tschadsee. Allein in Kampfhandlungen zwischen Boko Haram und staatlichen Sicherheitskräften sind in den letzten achteinhalb Jahren ca. 30.000 Menschen getötet worden. Zweieinhalb Millionen Nigerianer*innen sind als Binnenvertriebene auf der Flucht. Die diversen Konfliktdynamiken werden durch unterschiedliche politische, ethnische und religiöse Akteure bestimmt, haben vielfältige Ursachen und Triebkräfte und sind teilweise regional begrenzt. Was die Konflikte trotz aller ihrer Verschiedenheit verbindet, ist, dass sie in einem Zusammenhang stehen zur historisch-politischen Verfasstheit und dem kolonialen Erbe Nigerias, mit der Ineffizienz und der mangelnden Legitimität des staatlichen Gewaltmonopols und der grassierenden Korruption, den Beziehungen zwischen Staat und Gesellschaft sowie zwischen Zentrum und der Peripherie. Diese Analyse teilten die ExpertInnen während des FriEnt-Fachgesprächs zum deutschen Engagement zur Unterstützung von Sicherheitssektorreformen (SSR) in Nigeria am 16. Oktober 2019 in der Friedrich-Ebert-Stiftung in Berlin.


Spezifische Handlungsansätze zur Unterstützung von Sicherheitsakteuren

Trotz oder gerade wegen dieses komplexen Konfliktpanoramas bleibt die nigerianische Regierung für die Bundesregierung ein entscheidender sicherheitspolitischer Partner in Westafrika, um Stabilität in der Region aufrechtzuerhalten bzw. wiederherzustellen. Aus dieser Motivation heraus unterstützen das Auswärtige Amt (AA), das Bundesministerium der Verteidigung (BMVg) und das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) vor dem Hintergrund ihrer jeweiligen spezifischen Handlungsansätze, Instrumente und Partnerzugänge die Stabilisierung des westafrikanischen Landes. Zur Förderung der öffentlichen Sicherheit und zur Bekämpfung terroristischer Gruppen leistet die Bundesregierung, hier vor allem AA und BMVg, Beiträge zur Stärkung und Professionalisierung der nigerianischen Sicherheitskräfte, der demokratischen Regierungsführung und der parlamentarischen Kontrolle. So werden die Polizeistrukturen Nigerias über das polizeiliche Ausbildungs- und Ausstattungshilfeprogramm der Bundesregierung unterstützt. Für die nigerianischen Streitkräfte gibt es analog dazu eine Unterstützung im Rahmen der sog. Ertüchtigungsinitiative und des Ausstattungshilfeprogramms der Bundesregierung für ausländische Streitkräfte. Der Schwerpunkt des BMZ liegt auf der sozio-ökonomischen Stabilisierung Nigerias durch Programme zur Ausbildungs- und Beschäftigungsförderung für Jugendliche, zur Förderung des Wirtschaftswachstums und zur Reform des Energiesektors. Auf der regionalen Ebene unterstützt das Ministerium die Westafrikanische Wirtschaftsgemeinschaft ECOWAS unter anderem bei der Umsetzung ihres friedens- und sicherheitspolitischen Mandats. Ob und inwiefern das deutsche Engagement dem in der ressortübergreifenden SSR-Strategie der Bundesregierung formulierten Anspruch gerecht wird, menschliche Sicherheit und funktionsfähige, legitime und von der Bevölkerung akzeptierte politische Strukturen und Sicherheitskräfte zu fördern, war eine zentrale Fragestellung des FriEnt-Fachgesprächs. Gemeinsam mit RepräsentantInnen aus den deutschen Ministerien diskutierten VertreterInnen aus der nigerianischen und westafrikanischen Zivilgesellschaft, akademischen Think Tanks, aus Militär und Politik über aktuelle Herausforderungen, politische Prioritäten für SSR-Ansätze und die konkreten Anforderungen an deutsche Unterstützungsprogramme. Wichtige Impulse für die Debatte kamen dabei auch von der ehemaligen nigerianischen Bildungsministerin und Präsidentschaftskandidatin, Obiageli Ezekwesili.


Die Bilanz ist ernüchternd

In ihrer Einschätzung zu den konkreten Möglichkeiten und der politischen Relevanz externer Unterstützungsprogramme für SSR-Aktivitäten in Nigeria zogen die Teilnehmer*innen des Fachgesprächs eine ernüchternde Bilanz. Vor dem Hintergrund tiefgreifender Struktur- und Steuerungsprobleme und der Governance-Defizite stehe das Land vor der Herausforderung, sein politisches System mit allen damit verbundenen Entscheidungs- und Beteiligungsprozessen grundlegend zu reformieren und von der Einflussnahme traditioneller politischer Eliten zu entkoppeln. Kritisiert wurden insbesondere die klientelistische Vergabe von Positionen in den Ministerien, die, zumal in Kombination mit der grassierenden Korruption, ein Regierungshandeln im Sinne des Allgemeinwohls massiv behindere. Verschärft werde diese Problematik durch eine Haushaltspolitik ohne ausreichende Investitionen in die Gesundheits-, Bildungs- und Sozialsysteme. Die bestehenden politischen Vorgaben in der Sicherheitspolitik würden den tatsächlichen Anforderungen und Aufgaben für Polizei und Militär in der Praxis nicht gerecht und seien keine geeignete Grundlage für eine kohärente Zusammenarbeit und Aufgabenteilung der Sicherheitskräfte.
Besonders seit dem Erstarken von Boko Haram ab dem Jahr 2010/11 hätten die politischen und wirtschaftlichen Eliten des Landes weniger Anreize, das für sie profitable System zu ändern. „Peace is simply not profitable - low level conflict is“, fasste einer der Teilnehmer zusammen. Ein Großteil der öffentlichen Gelder des erdölreichen Landes fließt in den Verteidigungssektor, wovon Milliarden von US-Dollar jedes Jahr in den Taschen korrupter Politiker, Beamter, Militärs und Industrieller verschwänden. Im Zuge des internationalen „Kriegs gegen den Terrorismus“ würden vor allem Partnerregierungen wie die USA und Großbritannien ihre Grundsätze der internationalen Zusammenarbeit der Terrorismusabwehr unterordnen, wodurch ein Klima der Straffreiheit und Korruption begünstigt werde. Für die Frage nach den Unterstützungsmöglichkeiten durch die deutsche SSR-Politik mit dem Ziel, die Sicherheit für die Menschen in Nigeria zu verbessern und dabei auch die Schutzbedürfnisse besonders gefährdeter Bevölkerungsgruppen zu beachten, ergeben sich aus dieser Bilanz enorme Anforderungen sowohl für die einzelnen Unterstützungsprogramme als auch für die Gesamtheit der deutschen SSR-Aktivitäten. Werden dadurch wirksame Impulse für strukturelle und politische Veränderungen gesetzt? Und welche Anpassungen wären aus Sicht der Expert*innen notwendig, um die Sicherheitslage zu verbessern und gleichzeitig Anreize für mehr Transparenz und demokratische Kontrolle, nicht nur im Sicherheitssektor, zu setzen?

Politikempfehlungen stellen Schutz der Menschenrechte in den Mittelpunkt
  • Angesichts der beschriebenen Governance-Probleme, der Blockadehaltung einflussreicher Eliten und den politischen „Kollateralschäden“ im Zuge der Terrorismusbekämpfung richteten sich die Politikempfehlungen an die Bundesregierung vor diesem Hintergrund vor allem auf solche Maßnahmen, die eine parlamentarische und zivilgesellschaftliche Kontrolle der Sicherheitskräfte befördern, Nepotismus und Korruption adressieren, rechtsstaatliche Strukturen und das Gerichtswesen ausbauen und den Schutz der Menschenrechte auch in den Aus- und Fortbildungsprogrammen für Polizei und Militär in den Mittelpunkt stellen. Daraus ergaben sich einige konkrete Handlungsempfehlungen für die Bundesregierung und andere internationale Akteure:

  • SSR-Angebote müssten konsequent mit dem Menschenrechtsschutz verknüpft und entsprechend konditionalisiert werden. Eine Möglichkeit dazu sei, Menschenrechtsverletzungen durch nigerianische Sicherheitskräfte politisch und wirtschaftlich zu sanktionieren (z.B. durch das Einfrieren von Rüstungsexporten oder von Finanzleistungen) und dabei insbesondere die Rolle der Führungseliten und ihrer Familienangehörigen in den Blick zu nehmen (u.a. durch Reisebeschränkungen und Zugängen zu westlichen Bildungssystemen).

  • Die anstehende Diskussion zur Erneuerung der nationalen Sicherheits- und Verteidigungsstrategie sollte durch Perspektiven aus der Zivilgesellschaft ergänzt werden. Deutschland könne dazu konkrete Beiträge leisten, um Dialog- und Beteiligungsmechanismen für die Zivilgesellschaft gezielt zu unterstützen sowie Transparenz und Kommunikation zu sicherheitspolitischen Fragen für die Information und Teilhabe der Bevölkerung zu fördern. Darüber hinaus müsse auch die Fähigkeit von Parlament und Zivilgesellschaft für eine bessere Kontrolle und Rechenschaftslegung der Regierung in sicherheitspolitischen Fragen bestärkt werden.

  • Die nationale und die regionale Dimension der SSR-Ansätze sollten kohärent verknüpft werden, damit Unterstützungsmaßnahmen im Rahmen von ECOWAS im Einklang mit den nationalen Sicherheitsanforderungen in Nigeria stehen und auch die Situation in den Grenzregionen mit den westafrikanischen Nachbarstaaten mit in den Blick nimmt. Grenzsicherung und regionale Wirtschafts- und Handelsbeziehungen stünden mitunter im Widerspruch und müssten als Teil eines integrierten Gesamtkonzepts gleichermaßen adressiert werden.

  • Eine wichtige Voraussetzung für erfolgreiche SSR-Programme sei, aus Fehlern der Vergangenheit zu lernen und Ansätze, die in der praktischen Umsetzung in Nigeria schon gescheitert sind, nicht zu wiederholen. Die ExpertInnen des Fachgesprächs gaben zu bedenken, dass internationale SSR-Maßnahmen häufig mit standardisierten Modellen operieren, die für den nigerianischen Kontext nicht geeignet sind. Notwendig seien stattdessen innovative Ansätze mit flexiblen Instrumenten, die auch kurzfristige Anpassungen an virulente Entwicklungen ermöglichen und auch die mittlere Führungsebene der Sicherheitskräfte bei der Umsetzung von SSR-Programmen stärker einbeziehen. Mit Blick auf die sub-nationale Dimension der sicherheitspolitischen Herausforderungen in Nigeria sollte sich das deutsche SSR-Engagement auch auf eine Dezentralisierung der Staatsgewalt im Sicherheitsbereich richten. Bisher ist der Sicherheitssekttor zentralistisch organisiert, die Bundesstaaten haben keinen Zugriff auf die Sicherheitskräfte, sind aber sozio-ökonomisch wichtige Akteure. In einem solchen Prozess sollte eine stärkere Einbindung der lokalen Bevölkerung unterstützt werden.

  • Ein weiterer wichtiger Faktor sei die Aktualisierung der veralteten Polizeigesetze, die noch aus Kolonialzeiten stammen. Deutschland sei aufgerufen, gemeinsam mit weiteren internationalen Akteuren Druck auf die nigerianische Regierung und das Parlament auszuüben, um das neu konzipierte Polizeigesetz auch tatsächlich zu verabschieden und in Kraft zu setzen.

Eine einheitliche Strategie ist nicht erkennbar

Tiefgreifende Reformen des Sicherheitssektors sind vor dem Hintergrund der aktuellen Kriegshandlungen des Militärs und der protektionistischen Interessen der Eliten nicht zu erwarten. Die anfänglich mit hoher politischer Energie vorangetrieben Reformen unter Präsident Olusegun Obasanjo, der aus den Wahlen 1999 als Sieger hervorgegangen war und Prozesse der Demokratisierung einleitete, sind seit 2010 mit dem Erstarken von Boko Haram zum Erliegen gekommen. Der Einfluss internationaler Akteure ist begrenzt. Wie die Bundesregierung unter diesen Bedingungen ihre hochgesteckten politischen SSR-Ziele von menschlicher Sicherheit und positivem Frieden umsetzen kann, ist fraglich. Zumal die Programme der Bundesregierung stark von ressorteigenen Interessen und Schwerpunkten geleitet sind und eine einheitliche Strategie nicht zu erkennen sind.
Das länderbezogene Fachgespräch über die deutsche SSR-Politik in Nigeria ist Teil einer FriEnt-Dialogserie über das sicherheitspolitische Engagement Deutschlands in ausgewählten Kooperationsländern deutscher Entwicklungszusammenarbeit. Das erste Fachgespräch widmete sich im Juni 2019 den deutschen SSR-Programmen in Tunesien. Für das Frühjahr 2020 ist das nächste Expertengespräch geplant.



The Working Group on Peace and Development (FriEnt) is an association of governmental organisations, church development agencies, civil society networks, and political foundations.

Kontakt

Arbeitsgemeinschaft Frieden

und Entwicklung (FriEnt) c/ o GIZ

Friedrich-Ebert-Allee 36

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