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Dr. Simone Lindorfer

simone@liberationpsychology.net

Simone Lindorfer is an international trauma work specialist and technical advisor to Sevota on behalf of medica mondiale.

Traumasensibilität inmitten der Krise

Ein Erfahrungsbericht aus Myanmar
25 January 2022
Saw Wunna | unsplash

Am 1. Februar 2021 putschte sich in Myanmar das Militär zurück an die Macht. Seitdem gab es landesweit Proteste und gewalttätige Ausschreitungen, bei denen mindestens 1.300 Menschen getötet wurden. Der Putsch und die folgenden Wellen von Gewalt stellen für die Menschen in Myanmar nicht nur das Ende einer hoffnungsvollen Entwicklung zu Freiheit und Demokratie dar. Sie bedeuten eine kollektive Retraumatisierung aufgrund der Erfahrung von Jahrzehnten der Militärherrschaft.


Misereor unterstützt seit vielen Jahren in Partnerorganisationen in Myanmar, die unter anderem im Kachin-Staat arbeiten. Dort haben bereits seit 2011 Kämpfe ethnischer Armeen gegen das burmesische Militär (Tatmadaw) zu Gewalt und Vertreibung von Tausenden von Menschen geführt.

2019 hatte ich als Beraterin zunächst Myanmar besucht, um eine psychosoziale Bedürfnisanalyse der Partnerorganisationen durchzuführen und einen Workshop zur Traumasensibilität im Norden zu gestalten. Besonders deutlich waren damals die unterschiedlichen ineinanderfließenden Ebenen historischer und aktueller Traumata. 2020 sollte ein vertiefter Beratungsprozess, vor allem für die Leitung der Partnerorganisationen stattfinden. Durch die Corona-Pandemie und den Putsch wurde die Begleitung ab 2021 online organisiert.

Auf einer Reise ohne feste Koordinaten – und was der Prozess uns lehrte

Welche Rolle kann psychosoziale Begleitung angesichts einer aktuellen Krise spielen, in der sich so viele existentielle Fragen zeigen, die das schiere Überleben betreffen? Könnten Zoom Sitzungen zu Fragen von Krisenbewältigung, Umgang mit Hoffnungslosigkeit und Resilienzbildung im schlimmsten Fall wie Zynismus wirken? Würden sie den Anschein erwecken als ob die einzige Unterstützung darin bestünde, Menschen zu helfen, sich mit Hilfe von Psychotechniken mit einem menschenunwürdigen Zustand zu arrangieren?
Diese und ähnliche Fragen standen für uns am Beginn des Prozesses. Um Sicherheit und Vertrauen zu ermöglichen, die zentral für traumasensible Arbeit sind, brauchte es nicht nur eine sichere Zoom-Verbindung. Genauso bedeutsam war die Entscheidung der Partnerorganisationen, während der Sitzungen unter sich bleiben zu können.

Durchschnittlich einmal pro Monat fanden die Treffen per Zoom statt, die mit einer einfachen Körper- oder Zentrierübung und mit einer Sharing-Frage begannen: Was stärkt euch?
Dann erfolgte ein zuvor gemeinsam verabredeter inhaltlicher Input zu einem Thema, der diskutiert wurde. Den Abschluss der Sitzung bildeten eine Sharing- oder Atemübung und die Festlegung des nächsten Themas.

Manche der gewählten Themen waren in allen Organisationen ähnlich, wie beispielsweise die Frage nach stärkenden Alltagsroutinen mitten im zeitlosen doppelten Chaos von Covid-Lockdown und Ausgangsbeschränkungen. Andere Fragen waren individuelle Anliegen, die mit den Zielgruppen der unterschiedlichen Organisationen zu tun hatten: Mit einem Team beispielsweise gingen wir Fragen nach, wie traumatische Reaktionen der Kinder in den Binnenflüchtlingslagern aufgefangen werden können. Für eine andere Organisation stand das Verstehen von Belastungsreaktionen von Jugendlichen im Zentrum. Andere Kolleg*innen beschäftigte mehrere Sitzungen lang, wie ein fachlich hilfreicher und selbstfürsorglicher Umgang mit der massiven Trauer aussehen konnte, die Menschen angesichts der politischen Gewalt und dem Tod vieler an Covid-19 verstorbener Menschen in Myanmar erlebten.

Ein Zwischenfazit:

1. Psychosoziale Begleitung in einer anhaltenden traumatisierenden Erfahrung von Menschenrechtsverletzungen und Ohnmacht ist kein „Opium“ fürs (engagierte) Volk, sondern kann ein Akt des Widerstandes gegen Entwertung, Entmachtung und Entwürdigung sein. Sie kann nicht die physische Not, Hunger und Krankheit lindern und auch keine humanitären Aktivitäten ersetzen. Aber die Stärkung derer, die diese humanitäre Arbeit leisten, und ihre Sensibilisierung für Traumadynamiken ermöglicht, dass diese Arbeit mit ganzheitlicher Unterstützung und Würdigung der Not einhergehen kann.

2. Psychosoziale Begleitung, wie sie in diesem Prozess stattfand, bedeutet ein Mitgehen in Mitgefühl und Stärkung. Sie hilft, wenn Organisationen Trauer und Ohmacht bewältigen müssen, um handlungsfähig zu bleiben, wenn Eltern befähigt werden sollen, in Vertriebenencamps ihre Kinder zu stärken und ihnen Sicherheit zu geben, wenn humanitäre Helfer*innen die Reaktionen von rebellierenden und drogenabhängigen Jugendlichen in Camps verstehen sollen und mit den Eltern und Verantwortlichen reden. Für all dies braucht es den Verzicht auf one-size-fits-all- Angebote mit standardisierten Zuschreibungen von Verletztlichkeit - und stattdessen ein konsequentes Herausarbeiten der Themen mit den Betroffenen und aus deren aktueller Lebenssituation heraus.

3. Trauma bedeutet „disconnection“ (Judith Herman) – Abkapselung von anderen Menschen, Verhärtung, um den Schmerz nicht mehr spüren zu müssen, und Dumpfwerden. Aus allen Konflikten weltweit kennen wir die Zunahme von Gewalt in Familien und nahen Beziehungen während bewaffneter Auseinandersetzungen. Psychosoziale Arbeit, die der Dauerhaftigkeit von traumatischen Beziehungs“erfrierungen“ vorbeugt, ist implizit hoch friedensrelevant. Gleichwohl darf diese Arbeit nicht mit der Intention von „Befriedung“ getan werden: Wenn Menschen sich gegen eine aktuelle Bedrohung wehren, wenn sie ihr Leben an Checkpoints, bei Demonstrationen oder bei humanitärer Arbeit riskieren, dann ist Kämpfen-Wollen und Hassen eine verständliche und physiologisch höchst angepasste Überlebensreaktion. „Friedensarbeit“ bedeutet in diesem Kontext möglicherweise viel mehr dieses: die Beziehungsfähigkeit in communities und Familien zu erhalten, das Absterben von Mitgefühl zu verhindern, kollektiven und intergenerationellen Traumadynamiken Selbstreflexion und Beziehungsarbeit entgegenzusetzen. Und in all dem überaus kreativ und mutig zu sein, ausgetretene Wege zu verlassen und Neuland zu versuchen.

The Working Group on Peace and Development (FriEnt) is an association of governmental organisations, church development agencies, civil society networks, and political foundations.

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