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Winfried Nachtwei

winfried@nachtwei.de

Winfried Nachtwei ist Mitglied des Beirats der Bundesregierung Zivile Krisenprävention und Friedensförderung sowie Mitglied der Enquete-Kommission des Bundestags zu Afghanistan. Von 1994 bis 2009 war er Mitglied des Bundestags.

Wenn zivile Konfliktbearbeitung an Grenzen stößt

Zwischen Kriegsverbrechen und Menschlichkeit
26. September 2023
Foto: Nowshad Arefin | Unsplash

Aktuell gibt es mehr als 20 Kriege und bewaffnete Konflikte weltweit. Die Zahl der Opfer ist so hoch wie seit 30 Jahren nicht mehr. Zum informellen Oslo-Forum des Centre for Humanitarian Dialogue kommen alljährlich rund hundert Friedensvermittler, Diplomaten, hochrangige Politiker und Vertreter der Vereinten Nationen (VN) vertraulich zusammen. In diesem Jahr war angesichts des Krieges in der Ukraine von einer gewissen „Erschöpfung, einer mediation fatigue“ die Rede.

Die friedenspolitische Klimaerhitzung ist unübersehbar, der Gegenwind für zivile Konfliktbearbeitung und die politische Neigung, sie angesichts der kostspieligen Wiederherstellung von Verteidigungsfähigkeit zu vernachlässigen, sind erheblich. Aber der friedenspolitische Bedarf an ziviler Konfliktbearbeitung ist keineswegs verschwunden, im Gegenteil. Um ihm nachkommen zu können, müssen wir uns in der Politik darüber verständigen, wie zivile Konfliktbearbeitung unter den veränderten Bedingungen wirken kann und welche (neuen) Kooperationsmöglichkeiten es gibt, damit sie anschlussfähig bleibt.

Dies muss insbesondere im Kontext eines integrierten Friedensengagements betrachtet werden. Das heißt, dass Maßnahmen der zivilen Krisenprävention, Friedensförderung und Stabilisierung immer zusammen gedacht und miteinander verbunden werden müssen. So kann die Basis geschaffen werden, um mit unterschiedlichen Partnern in neuen grenzübergreifenden Allianzen gemeinsame politische Lösungen zu finden. Dies ist insbesondere wichtig mit Blick auf den zunehmenden Unfrieden und in Anbetracht des inzwischen dritten Scheiterns eines multinationalen Stabilisierungs-Großprojekts – nach Afghanistan und Mali jetzt auch in Niger.

Ende einer historischen Friedensperiode in Europa

Kaum thematisiert wurde bisher, dass mit dem bedingungslosen Abbruch des internationalen Afghanistaneinsatzes und der Rückkehr der Taliban an die Macht 2021 auch viele zivilgesellschaftliche Bemühungen um Stabilisierung und Friedensförderung weggespült wurden. Der russische Angriff auf die Ukraine stellte dann den Tiefschlag des Afghanistan-Desasters schnell in den Schatten.

77 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs gibt es wieder einen zwischenstaatlichen Krieg in Europa: mit Landstreitkräften, Artillerie, Raketen, Drohnen – mit dem Ziel, die ukrainische Eigenstaatlichkeit zu vernichten. Ein massiver Bruch elementaren Völkerrechts, der Menschenrechte, aller Verträge zur europäischen Friedensordnung. Für die Friedensakteure und den Politikansatz der zivilen Konfliktbearbeitung war diese Sturmflut von zwischenstaatlicher Kriegsgewalt ein besonderer Schock: Ihr Politikfeld war seit mehr als 20 Jahren überwiegend auf innerstaatliche Konflikte fokussiert.

Die Möglichkeit von zwischen-staatlichen Aggressionen wurde in der friedenspolitischen Community weitgehend ausgeblendet und auch von deutscher Regierungspolitik trotz Krim-Annexion kaum ernst genommen. Die Leitlinien der Bundesregierung „Krisen verhindern, Konflikte bewältigen, Frieden fördern“ von 2017 konstatieren: „Zwischenstaatliche Konflikte im Sinne einer direkten Konfrontation zwischen souveränen Staaten sind seltener geworden. Stattdessen spielen sich gewaltsame Auseinandersetzungen heute zumeist innerhalb der Grenzen eines Staates ab“.

Zivile Konfliktbearbeitung heute

Der Angriffskrieg auf die Ukraine hat die zivile Konfliktbearbeitung nun mit ihrer totalen Negation konfrontiert, setzt sie doch mit ihrem eher optimistischen und lösungsorientieren Menschen- und Weltbild auf Strukturbezogenheit, Dialog-, Verständigungs- und Menschenrechtsorientierung. Zivile Krisenprävention und Konfliktbearbeitung adressieren primär die gesellschaftliche Mikro- und Mesoebene – mit Zeithorizonten von Monaten bis zu mehreren Jahren. Jetzt rollte binnen Minuten, Tagen, Wochen die russische Kriegsmaschinerie heran – auf der politischen und gesellschaftlichen Makroebene.

Das so notwendige und unverzichtbare Politikfeld versagte aber nicht. Es stieß an seine Grenzen, war überfordert, wehrlos und konnte keinen Schutz gewährleisten. Für Friedensmediation mit dem Ziel, den Gesamtkonflikt durch politische Verhandlungen zu lösen, fehlte zunächst jede Voraussetzung: Der Aggressor stand dem Überlebenskampf der Überfallenen gegenüber – zwischen elementarem Völkerrechtsbruch und Völkerrechtsverteidigung.

Der Kriegsverlauf zeigte schnell, dass ausschließlich zivile Ansätze aussichtslos waren gegenüber einer Distanz- und Terrorkriegsführung und einer enthemmten Soldateska. Die Ukraine nahm angesichts der existenzbedrohenden Aggression das „naturgegebene Recht zur individuellen oder kollektiven Selbstverteidigung“ (Artikel 51 der VN-Charta) wahr. Doch der russische Aggressor blockierte als VETO-Macht Kollektivmaßnahmen gemäß der VN-Charta. So war die Ukraine überlebensnotwendig auf den indirekten Beistand möglichst vieler Staaten durch Waffenlieferungen angewiesen.

Dies war nicht nur völkerrechtskonform. Es war und ist eine politisch-moralische Verpflichtung, die sich aus dem Geist kollektiver Sicherheit ergibt. Diese Überlebenshilfe zu verweigern, wie es auch Teile der hiesigen Friedensbewegung fordern, ist ein friedenspolitischer Offenbarungseid und würde künftigen Friedensstörern Tür und Tor öffnen.

Gleichzeitig braucht es heute mehr denn je die ganze Bandbreite der bewährten konfliktbearbeitenden und friedensfördenden zivilen Instrumente und Ansätze, um die Kriegsfolgen zu bewältigen und den Zusammenhalt der ukrainischen Gesellschaft in Richtung eines positiven Friedens zu stärken. So, wie es der Beirat der Bundesregierung Zivile Krisenprävention und Friedensförderung bereits im Mai 2022 in seiner Stellungnahme zum russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine formuliert hat: „In laufenden zwischenstaatlichen, bewaffneten Konflikten sind die Wirkungsmöglichkeiten von ziviler Konfliktbearbeitung jenseits von Diplomatie eingeschränkt. Aber Akteur:innen aus humanitärer Hilfe, Entwicklungs- und Friedensarbeit leisten in dieser Phase, wie aktuell in der Ukraine, wichtige Beiträge. So begleiten sie traumatisierte Menschen, dokumentieren Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen und sichern das kollektive historisch-kulturelle Gedächtnis vor der Vernichtung. Sie helfen, während der kriegerischen Auseinandersetzungen in und zwischen den betroffenen Gesellschaften Brücken der Menschlichkeit zu erhalten.“

Die Arbeitsgemeinschaft Frieden und Entwicklung (FriEnt) ist ein Zusammenschluss von staatlichen Organisationen, kirchlichen Hilfswerken, zivilgesellschaftlichen Netzwerken und politischen Stiftungen.

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und Entwicklung (FriEnt) c/ o GIZ

Friedrich-Ebert-Allee 36

53113 Bonn

Tel +49 228 4460-1916

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